Brief der CDU-Landtagsfraktion an die Elternvertretungen aller Grundschulen

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Magdeburg, 7. Dezember 2000

Sehr geehrte Schulelternräte, sehr geehrte Eltern,

am 12.10.2000 beschloß der Landtag von Sachsen-Anhalt mehrheitlich das Gesetz zur Einführung der Grundschule mit festen Öffnungszeiten, das inzwischen auch veröffentlicht wurde. Die meisten Eltern erfuhren erst zu diesem Zeitpunkt, was mit diesem Gesetz schon ab dem Schuljahr 2001/02 auf sie zukommt. Zahlreiche Anrufe und Briefe aus den letzten Wochen zeigten uns, daß viele Eltern dieses Gesetz ebenso entschieden wie wir ablehnen. Auch die neugegründete Elterninitiative ?ABC schützen!? findet unter der Elternschaft großen Zuspruch. Viele andere Eltern kennen den genauen Geset-zestext noch nicht. Sowohl darum als auch wegen der großen Tragweite wollen wir Sie über die beschlossenen Änderungen, über die Hauptgründe für unsere entschiedene Ablehnung und über unsere weiteren Vorhaben informieren. Beiliegend finden Sie eine Gegenüberstellung der bisherigen Bestimmungen des Schulgesetzes und der wesentlichen Änderungen.

Ab dem kommenden Schuljahr sollen alle Grundschüler für die Dauer von 5½ Zeitstunden täglich - z.B. von 7.30 Uhr bis 13.00 Uhr - unterrichtet und betreut werden. Die ?feste Öffnungszeit? meint jedoch über ein Betreuungsangebot hinaus eine Anwesenheitspflicht für alle Schüler. Die Einschränkung ?in der Regel? (§ 4 Abs. 1 Satz 4) besagt nach Angaben des Kultusministers nur, daß geringfügige Anpassungen der Öffnungszeit an die Fahrzeiten der Schulbusse möglich sind; außerdem könne eine Grundschule z.B. freitags eher schließen, wenn sie dafür an einem anderen Tag länger öffne.

Zur Betreuung wie auch zur Unterstützung des Unterrichtes sollen rund 1.200 Personen, vor allem Horterzieherinnen, als pädagogische Mitarbeiterinnen übernommen werden. Im Gegenzug läuft das Hortgesetz schon zum 1.8.2001 aus.

Die CDU-Landtagsfraktion hat von Anfang an ein verläßliches, bedarfsgerechtes Betreuungsangebot begrüßt, eine Ausweitung der Anwesenheitspflicht jedoch entschieden abgelehnt. Zu einem solchen Angebot hätte es übrigens keiner Gesetzesänderung bedurft, da das bisherige Schulgesetz (§ 4 Abs. 6) die Grundschule mit festen Öffnungszeiten längst ermöglichte.

Für uns ist eine Grundschule mit verlängertem Anwesenheitszwang ein nicht vertretbarer Eingriff in das Erziehungsrecht der Eltern. Meint die Landesregierung wirklich, daß der Staat für alle Kinder der bessere Erzieher ist? Das wäre eine ungeheuerliche Anmaßung des Landes und zugleich Ausdruck des tiefsten Mißtrauens gegenüber der gesamten Elternschaft. Was immer die Gründe für die beschlossene Zwangsbetreuung sein mögen, die Konsequenzen daraus tragen geradezu totalitäre Züge.

Die Landesregierung gibt vor, daß eine Betreuung auf freiwilliger Ebene unmöglich zu organisieren sei. Andere Länder zeigen jedoch, daß dies sehr wohl geht. So bieten in Baden-Württemberg seit die-sem Schuljahr an rund 70% aller Grundschulen eine? Verläßliche Grundschule? an. Dort ist ebenfalls ein Unterrichts- und Betreuungsangebot von 5½ Stunden täglich vorgesehen, allerdings nach dem Schulschluß gegen Mittag auf freiwilliger Ebene. Auch in Bremen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen ist die außerunterrichtliche Betreuung freiwillig. Und wo eine Anwesenheitspflicht besteht, erstreckt sich diese zumindest für die Klassen 1 und 2 auf vier Zeitstunden.

Der Eingriff in das elterliche Erziehungsrecht durch die verlängerte Anwesenheitspflicht wiegt um so schwerer, als ihm kein wesentlicher positiver Ertrag für die Kinder gegenübersteht. Mehr Unterricht soll nicht stattfinden. Diskutiert wird jetzt zwar im nachhinein eine Wochenstunde mehr in den beiden ersten Schuljahrgängen - im Gegenzug sollen die Grundschulen aber in den oberen Klassen eine Stunde weniger als bisher anbieten können. Man könnte also allenfalls annehmen, daß der Unterricht durch die verlängerte Öffnungszeit kindgerechter strukturiert würde. Wir befürchten allerdings, daß in der Praxis kaum mehr als ein Zwangs-Mittagessen in der Schule herauskommen wird. Viele Eltern sehen in der verlängerten Anwesenheitspflicht auch eine Einschränkung des kulturellen oder sportli-chen Freizeitverhaltens der Kinder, so daß manche schon von einer Freizeitberaubung sprechen.

Die pädagogischen Begründungsversuche der Landesregierung für die längere Anwesenheitspflicht halten wir für Scheinargumente. Inzwischen hat die Regierung selbst deutlich gemacht, wie wichtig ihr arbeitsmarktpolitische Überlegungen im Hinblick auf die Horterzieherinnen waren. Bei allem Verständnis für die Situation dieser Erzieherinnen, die derzeit auch nicht genau wissen, was auf sie zu-kommt: Ein echter Pädagoge kann im Grunde selbst nicht wollen, daß seinetwegen alle Kinder zu einer längeren Anwesenheit verpflichtet werden. Im übrigen ist ein sinnvoller Einsatz pädagogischer Mitarbeiter - vorgesehen ist ein Mitarbeiter für jeden angefangenen Zug, d.h. in der Regel für je vier Klassen - auch bei einer freiwilligen Betreuung möglich.

Eine Hortbetreuung kann künftig nur noch durch kommunale oder freie Träger erfolgen. Viele Eltern sind verunsichert, wie und unter welchen Bedingungen dies an ihrem Ort geschehen wird. Auskunft darüber kann Ihnen nur Ihre Gemeinde geben. Allerdings weiß auch sie vermutlich noch nicht, wie stark ihre Einrichtungen zur Nachmittagsbetreuung künftig noch in Anspruch genommen werden. Besonders schwierig wird die Situation für eigenständige Horteinrichtungen in freier Trägerschaft.

Wir befürchten außerdem, daß etliche Kinder künftig nicht mehr, sondern weniger als bisher betreut werden. Dann nämlich, wenn Eltern, deren Kinder nachmittags nicht familiär betreut werden können, die Kosten für den künftig kürzeren Hortbesuch scheuen. Wir unterstellen der Landesregierung nicht, daß sie dies will, aber Verantwortung umschließt nicht nur die gewollten, sondern auch die tatsächlich vorauszusehenden Folgen des eigenen Handelns.

In der abschließenden Debatte über den Gesetzentwurf kündigte die CDU-Landtagsfraktion eine verfassungsrechtliche Prüfung des Gesetzes an. Diese Prüfung dauert derzeit noch an. Allerdings hat nicht jede familienpolitisch falsche und verfassungsrechtlich bedenkliche Entscheidung auch die Aussicht, vom Landes- bzw. Bundesverfassungsgericht - zumal in einem kurzen Zeitraum - als verfassungswidrig beurteilt zu werden.

Vermutlich haben Sie den Medien entnommen, daß die Landesregierung in ihrer Verordnung zum Gesetz zumindest für die Klassen 1 und 2 eine Verkürzung der Anwesenheitspflicht erwägt. Dies ist zweifellos ein großer Erfolg, den wir vor allem dem breiten Protest der Eltern zuschreiben. Aber dennoch ist es nur ein Etappensieg. Denn zum einen kann eine Verordnung ohne Mitwirkung des Parlamentes auch wieder rasch geändert werden. Zum anderen widerspricht es unserem Rechtsverständnis, wenn ein gesetzlich verursachter Mißstand durch eine Verordnung umgangen werden soll, anstatt auch auf gesetzlicher Ebene behoben zu werden. Vor allem aber ist mit dem angekündigten Freiraum von 2½ Stunden wöchentlich für die beiden ersten Klassenstufen das eigentliche Problem nicht behoben.

Darum werden wir nochmals versuchen, die Grundschulen mit festen Öffnungszeiten so zu gestalten, daß innerhalb der Öffnungszeit verläßliche Betreuungsphasen vor Unterrichtsbeginn und nach Unterrichtsschluß stattfinden, deren Besuch freiwillig ist. Einen entsprechenden Gesetzentwurf haben wir eingebracht. Um der Sache willen werden wir jedoch auch jeder anderen Initiative zustimmen, die geeignet ist, für dieses Anliegen die erforderlichen Mehrheiten zu finden.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Christoph Bergner - Vorsitzender Eva Feußner - Bildungspolitische Sprecherin